Institut für Humangenetik

Forschungsprojekte

Einleitung

Der Arbeitsschwerpunkt der Gruppe liegt auf dem Gebiet der Soma-Zellgenetik. Blut- und Hautzellen des Menschen werden in der Zellkultur vermehrt, hinsichtlich ihrer Wachstumseigenschaften und genomischen Stabilität charakterisiert und zugrunde liegende genetische Defekte analysiert. Zentrale Fragestellung ist der Zusammenhang zwischen genetischer Instabilität, Krankheit und Altern.

Ursachen und Konsequenzen von genetischer Instabilität beim Menschen

Als Modellsysteme dienen die genetischen Instabilitäts-Syndrome des Menschen, zu denen insbesondere die Fanconi Anämie, die Ataxia telangiectasia, das Nijmegen-Breakage-Syndrom, das Bloom-Syndrom und das Werner-Syndrom gehören. Diesen Krankheitsbildern gemeinsam ist eine stark erhöhte Krebsanfälligkeit und das Auftreten vorzeitiger Alterungserscheinungen. Verursacht werden die rezessiv vererbten Erkrankungen durch biallelische Mutationen in den FANC-Genen sowie in den Genen ATM, NBS, BLM und WRN, welche alle zur Gruppe der „Caretaker“-Gene des Menschen zählen. Caretaker-Gene sorgen für die genetische Stabilität unserer Körperzellen durch die Erkennung und Behebung von DNA-Schäden, welche endogene (z. B. reaktive Sauerstoffspezies, Temperatur) und exogene (z. B. ionisierende Strahlung, klastogene Substanzen) Ursachen haben können. Nicht, unzureichend, oder falsch reparierte DNA führt einerseits zur Arretierung des Zellwachstums und zu Zelluntergang, andererseits jedoch auch zur Entstehung von genetisch unbalanzierten Zellen mit veränderten Wachstumseigenschaften, also zu potenziellen Krebszellen.

Beispielhaft für den engen Zusammenhang zwischen DNA-Reparaturdefekten und Krebsentstehung sind insbesondere die Gene BRCA1 und BRCA2, deren monoallelische Mutationen das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs  erhöhen. Diese Gene spielen vermutlich eine wichtige Rolle in der Erkennung und Reparatur von Doppelstrangbrüchen in unserer DNA. Biallelische Mutationen im BRCA2-Gen bedingen zugleich eine besonders schwere Form der Fanconi Anämie, während ein mit BRCA1 interagierendes Protein (BRIP1) als DNA-Helikase fungiert und mit dem Fanconi Anämie Gen FANCJ identisch ist. Weitere wichtige Caretaker-Gene, deren Funktionen in der AG untersucht werden, sind die Reparaturgene RAD50 und LIG4 (DNA-Ligase IV), sowie das Microcephalin-Gen (MCPH1), welches für ein zentrosomales Protein kodiert und durch die Regulation von CHK1 und BRCA1 ebenfalls an der Schadenserkennung beteiligt ist.

Die Möglichkeit, Blut- und Bindegewebszellen betroffener Patienten ausserhalb des Körpers in der Zellkultur wachsen zu lassen und über lange Zeiträume in flüssigem Stickstoff zu konservieren, eröffnete die systematische Suche nach Auswirkungen, welche Defekte in Caretaker-Genen auf Zellwachstum, Zellteilung und die Intaktheit des genetischen Materials haben. Im Lichtmikroskop sichtbare Auswirkungen von Defekten in Caretaker-Genen sind Chromosomenveränderungen, insbesondere Chromsomenbrüche und Chromosomenumbauten (Translokationen, Deletionen), wie sie im Jahre 1964 von Schroeder-Kurth et al. (bei der Fanconi-Anämie) und 1975 von Hoehn et al. (beim Werner-Syndrom) erstmals beschrieben wurden. Solche chromosomal geschädigten Zellen werden im Verlauf des Zellzyklus arretiert und akkumulieren in der G2-Phase des Zellzyklus. In Zusammenarbeit mit Peter Rabinovitch von der University of Washington in Seattle, Manfred Kubbies (jetzt Roche-Forschungszentrum Penzberg) und Thomas Bettecken (jetzt MPI für Psychiatrie, München) wurde ein durchflusszytometrisches Verfahren entwickelt, welches die Quantifizierung von genetisch geschädigten Blut- und Hautzellen mit hoher Präzision gestattet. Dieses einzigartige Verfahren wird von der AG seit mehr als 20 Jahren sowohl zur Diagnostik als auch zur Erforschung der zellgenetischen Manifestationen der Caretaker-Gen Syndrome eingesetzt.

Neben der Zellzyklus-, Chromosomen- und Mutationsanalyse erlangte in den letzten Jahren die Komplementationsanalyse eine überragende Bedeutung. In Zusammenarbeit mit Helmut Hanenberg von der Universität Düsseldorf werden mit entsprechenden cDNAs versehene retrovirale Vektoren sowohl zur Feststellung der Komplementationsgruppe (bei der genetisch heterogenen Fanconi-Anämie), als auch zur funktionellen Charakterisierung unklarer Mutationen in einer Reihe von weiteren Genen eingesetzt. Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten über die menschlichen Caretaker-Gen-Syndrome haben ihren Niederschlag in mehr als 100 Publikationen gefunden. Sie belegen die verhängnisvolle Rolle von genetischer Instabilität bei der Entstehung von Entwicklungsstörungen, Krebserkrankungen und vorzeitigen Alterungserscheinungen.

Übersichtsartikel (Auswahl)

Poot M, Hoehn H, Kubbies M, Grossmann A, Chen Y, Rabinovitch PS.
    Cell cycle analysis using continuous bromodeoxyuridine labeling and Hoechst 33358-ethidium bromide bivariate flow cytometry. Methods Cell Biol 1994, 41:327-40.

Liebetrau W, Runger TM, Baumer A, Henning C, Gross O, Schindler D, Poot M, Hoehn H.
    Exploring the role of oxygen in Fanconi anemia. Recent Res Canc Res 1997,143:353-67.

Schindler D, Hoehn H.
    Flow cytometric testing for syndromes with chromosomal instability, aplastic anemia and related hematological disorders. In: Diagnostic Cytogenetics (RD Wegner, ed), Springer Lab Manual, 1999, Springer Verlag Berlin, pp 269-281.

Hoehn H, Thiel-Gross M, Sobeck A, Wagner M, Schindler D.
    Genetic Instability and Fanconi Anemia. In: Chromosomal Instability and Aging (FM Hisama, SM Weissmann, GM Martin, eds) Marcel Dekker, New York, Basel, 2003, pp 375-408.

Hoehn H, Renner A.
    Human Aging and Longevity: Genetic Aspects. In: Aging of Organisms (Osiewacz HD, ed) Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, 2003, pp 247-269.

Kalb R, Neveling K, Nanda I, Schindler D, Hoehn H.
    Fanconi Anemia: Causes and consequences of Genetic Instability. In: Genome and Disease (Volff JN, ed) Karger, Basel, 2006 pp 218-42

Nationale und internationale Kooperationen

Helmut Hanenberg, Universität Düsseldorf; Martin Digweed, Heidemarie Neitzel und Wolfram Ebell, Humboldt-Universität Berlin; Thilo Dörk, Medizinische Hochschule Hannover; Manfred Kubbies, Roche Forschungszentrum Penzberg; Peter S. Rabinovitch, University of Washington, Seattle; Hans Joenje, Free University Amsterdam; Arleen Auerbach, Rockefeller University New York, Jordi Surralles, University of Barcelona

Forschungsförderung

SFB 172, EUROS-Projekt (EU), Fanconi Anemia Research Fund (US), Deutsche Fanconi-Anämie-Hilfe e.V., Schroeder-Kurth Fonds zur Förderung der Fanconi Anämie Forschung an der Universität Würzburg

Gesellschaftliche Relevanz

Die Etablierung von Diagnose-Verfahren auf der Basis von Durchflusszytometrie gestattet die schnelle Bestätigung bzw. den Ausschluss bei klinischem Verdacht auf  genetische Instabilitätssyndrome wie Fanconi-Anämie oder Ataxia telangiectasia und ist daher für die Patientenversorgung von grosser praktischer Bedeutung. Darüber hinaus weisen die Ergebnisse der Untersuchungen an genetisch bedingten Instabilitätssyndromen darauf hin, dass die Aufrechterhaltung der genetischen Stabilität unserer Körperzellen eine Grundvoraussetzung für das Erreichen eines hohen Lebensalters ist. Während wir exogene Schadensursachen durch gute Umweltbedingungen (z. B. Strahlenschutz; Rauchverzicht) minimieren können, sind endogene Schadensursachen aufgrund der Zellatmung (Bildung von sogenannten „freien Radikalen“) und aufgrund der Thermoinstabilität unserer DNA (37 Grad Körpertemperatur) unvermeidbar.

Die menschlichen Caretaker-Gen Syndrome haben uns gezeigt, dass wir überhaupt nur so lange leben, weil wir über ausgezeichnete DNA-Reparatursysteme verfügen. Jedoch nimmt die Effektivität unserer DNA- Reparatursysteme im Laufe des Lebens ab, so dass die Anhäufung von irreversiblen DNA-Schäden einerseits zu Funktionsstörungen, Zelluntergang und Organversagen, andererseits aber auch zu Krebserkrankungen führt. Durch vernünftige Lebensweise, günstige Umwelt-bedingungen und medizinische Intervention können Krebsrisiko zwar vermindert und Alterungsprozesse verzögert, jedoch nicht grundsätzlich überwunden werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen an den menschlichen Caretaker-Gen Syndromen weisen zudem darauf hin, dass Befunde von niederen Organismen, bei denen die Alterungsprozesse und die Lebensspanne durch Veränderung einzelner Gene moduliert werden können, nicht ohne weiteres auf die viel komplexere Situation des Menschen übertragbar sind. Die derzeit populäre Anti-Aging-Medizin, welche sich auf singuläre Komponenten von Alterungsprozessen konzentriert und mit einer Vielzahl von Vitaminen und Antioxidantien operiert, muss nach diesen Erkenntnissen eher kritisch und zurückhaltend beurteilt werden. Körperliche und geistige Aktivität verbunden mit einer gesunden Ernährung sowie dem Verzicht auf Genussgifte sind nach diesen Erkenntnissen die effektivsten (und billigsten!) Methoden des Anti-Aging.